„Dass die Insekten sterben, sehe ich an meiner Windschutzscheibe – die ist heute nämlich sauber, früher klebte sie voller Insekten.“ – Mehr Beweis braucht es nicht: Nahezu in jedem Artikel sowie in jedem zweiten Internet-Post, der sich irgendwie mit dem Thema Insektensterben und der Krefelder Studie dazu befasst, kommt dieses Beispiel zur Veranschaulichung zum Tragen. Doch wie plausibel ist dieser „Beweis“ eigentlich?

Ich fange mal bei mir selbst an: Vor dreißig Jahren hatte ich noch keinen Führerschein. Damals hat mich der Verdreckungsgrad von Windschutzscheiben somit nicht interessiert. Meine erste längere Autofahrt als Fahrerin liegt rund 25 Jahre zurück. Die Tour ging vom Münsterland bis nach Lüneburg. Ich kann mich daran erinnern, dass ich gegen Ende der Fahrt wirklich müde wahr und die schöne Landschaft rund um Uelzen hat sich mir auch eingeprägt, aber wie die Windschutzscheibe meines Ford Fiesta damals aussah, weiß ich auf Gedeih und Verderb nicht mehr. Ich kann mich jedenfalls nicht an einen Tankstellen-Stopp erinnern, bei dem ich die Scheibe hätte sauber machen müssen.

Generell habe ich keine Erinnerung an eine mit Insekten verklebte Scheibe. Und selbst wenn ich eine hätte: Wäre das dann wohl eine Erinnerung an eine durchschnittlich verdreckte Scheibe oder eher eine Erinnerung an eine außergewöhnlich verdreckte Scheibe? Ich vermute mal, dass sich eher die außergewöhnlichen Dinge ins Gedächtnis einprägen.

Die Rückschau ist trügerisch. Die Sicht auf vergangene Zeiten verklärt nicht nur die Vergangenheit („Früher war alles besser“), sondern sie ist einfach nicht verlässlich. Psychologen konnten nachweisen, dass man Menschen Erinnerungen regelrecht einpflanzen kann, so dass sie glauben, sich an etwas zu erinnern, was sie nie erlebt haben.

Nicht falsch verstehen: Ich gönne jedem seine Erinnerung an mit Insekten verschmierte Windschutzscheiben – egal ob eingebildet oder echt. Nur ich habe eine Bitte: Bitte nicht versuchen, daraus irgendeine Evidenz für was auch immer abzuleiten! Das funktioniert nämlich nicht. Die Aussage „Früher klebten mehr Insekten an der Scheibe“ ist heute weder verifizier- noch falsifizierbar. Es ist einfach nur eine Anekdote – nicht mehr und nicht weniger. Ich verstehe daher nicht, dass auch Wissenschaftsjournalisten diese Anekdote bemühen. Wenn über die Wirksamkeit von Homöopathie diskutiert wird, werden diese anekdotischen Beweisführungen müde belächelt, in Sachen Insektensterben dienen sie dem guten Zweck.

 

10 Antworten zu „Windschutzscheiben-Psychologie”.

  1. „Wenn über die Wirksamkeit von Homöopathie diskutiert wird, werden diese anekdotischen Beweisführungen müde belächelt“
    Schön wär’s… xD Ich sage nur „Wer heilt, hat recht!!“

    1. Die Homöopathie heilt aber nicht, sie hat nur Placeboeffekte.

      1. Eben.

  2. „Ich verstehe daher nicht, dass auch Wissenschaftsjournalisten diese Anekdote bemühen“ Das kommt daher, dass das Nivaeu vieler, die sich Wissenschaftsjournalist nennen, drastisch absinkt. Manchmal hat man den Eindruck, je bekannter ein WJ ist, desto niedriger sein Nivaeu. EIne Korrelation diesbezüglich scheint zu bestehen.

  3. Ja, es klebten früher mehr Viecher an der Scheibe. Das kann ich bestätigen. Nur: früher hatten die Karren auch einen um Einiges höheren Cw-Wert. Im Klartext: die Luft wurde stärker abgelenkt und die Insekten knallten dank Trägheit heftiger (bzw. überhaupt erst) an die Windschutzscheibe.

  4. Ich bin ein Verfechter des Windschutzscheiben-Arguments. In den 90ern habe ich auf Autobahnstrecken im Sommer bei unzähligen Tankstopps die Scheibe händisch reinigen müssen. Jetzt ist das schon seit Jahren nicht mehr notwendig. Mein heutiges Auto hat einen höheren CW-Wert als mein damaliges und ich fahre gleich schnell. Das ist kein Beweis für das Insektensterben, aber ein Indiz. Eine alternative Hypothesen wäre natürlich, dass die niedrig fliegenden und reaktionsschwachen Insekten durch den Selektionsnachteil schon fast ausgestorben sind, während sich die Massen 2m höher tummeln und Autobahnen zu meiden gelernt haben.

    1. „Kann ich bestätigen“ ist aber auch wieder nur eine Anekdote und keine Statistik. Und auch wenn sie stimmt, gibt es noch andere mögliche Erklärungen, zb. dass tief fliegende Insekten von den mittlerweile weit verbreiteten Lärmschutzwänden aufgehalten werden.

      1. Ups, der erste Teil bezieht sich auf einen anderen Kommentar.

  5. Hat schon mal jemand LKW-Fahrer dazu befragt? Da sollte sich der Cw-Wert nicht viel verändert haben. Ich fahre schon seit über 40 Jahren Auto (keine LKWs) und hatte früher im Sommer immer einen rauhen Schwamm dabei, mit dem die Insektenreste von der Frontscheibe abgerubbelt werden konnten. Seit vielen Jahren nicht mehr benutzt, jedoch auch nicht bei Urlaubsfahrten in die Alpen oder nach Süditalien. Vielleicht doch der bessere Cw-Wert?

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