Warum haben postfaktische Behauptungen in der öffentlichen Diskussion überhaupt eine Chance, warum setzen sie sich manchmal sogar durch? Es gibt einen klassischen medienwissenschaftlichen Begriff, der helfen kann dieses Phänomen zu beschreiben: der Begriff der Schweigespirale.
Im Jahr 1980 veröffentliche die Kommunikationsforscherin Elisabeth Noelle-Neumann das Buch „Die Schweigespirale. Öffentliche Meinung und soziale Haut“. Die dort formulierte Theorie der Gründerin des Instituts für Demoskopie in Allensbach fand internationale Beachtung. Das Buch wurde in zwei Dutzend Sprachen übersetzt.
Die Grundaussagen lassen sich wie folgt skizzieren:
• Der Mensch als soziales Wesen passt sich mehr oder weniger bewusst einer Mehrheitsmeinung an und erhebt selten Widerspruch
• Menschen verhalten sich so, weil sie Angst vor Sanktion und Isolation haben
• Was die vermeintliche Mehrheitsmeinung ist, wird vor allem über die Medien wahrgenommen
• Welche Meinung als Mehrheitsmeinung fungiert, hängt u.a. von der „Lautstärke“ der Akteure ab
• Medien verstärken den Effekt, indem sie wiederholend („kumulativ“) und übereinstimmend („konsonant“) berichten
• Schweigespiralen entwickeln sich vor allem bei kontrovers diskutierten Themen
Diejenigen, die lauter sind im öffentlichen Diskurs, die die Klaviatur des Medien-Business beherrschen, Nachrichten liefern, die die Zeitung oder das TV-Magazin für die Reichweite brauchen, die setzen ihre Themen und ihre Deutung durch.
A cartoon by @JoeDator. See more cartoons with the New Yorker Today app: https://t.co/OQoDVADplV pic.twitter.com/zBqOY1IhXh
— The New Yorker (@NewYorker) November 28, 2016
Das Grundprinzip der Schweigespirale lässt sich leicht am Märchen „Des Kaisers neue Kleider“ beschreiben: Als der Herrscher am Ende nackt seine vermeintlich prunkvolle Kleidung präsentiert, traut sich nur ein Kind die Wahrheit auszusprechen. Alle – fertig sozialisierten – Erwachsenen spielen das Spiel – heute würde man sagen „Narrativ“ – mit, und zwar aus Angst vor negativen Konsequenzen.
Die Grüne Gentechnik ist aus meiner Sicht definitiv ein Opfer der Schweigespirale: NGOs wie Greenpeace habe jahrelang konzertiert Stimmung gemacht gegen die neue Technologie. Es wurde massiv mit Bildern gearbeitet: in Schutzanzügen gekleidet Felder befreit, Grimassen gezeichnet, Obst und Gemüse mit möglichst künstlich aussehenden Spritzen traktiert, Gefahrensymbole zweckentfremdet.
Die andere Seite – die Wissenschaftler – sind nicht gewohnt, Öffentlichkeitsarbeit für ihre Themen zu betreiben. Ihre Argumente erreichen die Menschen nicht. Der Wissenschaftsredakteur Johannes Kaufmann bekam jetzt auf eine Interview-Anfrage die folgende Antwort eines renommierten Gentechnik-Forschers:
„Muss ich mir so etwas noch einmal antun? (…) wenn man es im aktiven Dienst wiederholt erfahren musste, wie Verleumdung geht?“
Es ist also auch heute noch möglich, in unserem freien Land mundtot gemacht zu werden. Auch die Forschungsfreiheit wird eingeschränkt, und zwar durch kruden Vandalismus: Das Leibniz-Institut für Pflanzengenetik und Kulturpflanzenforschung (IPK) in Gatersleben hat deswegen seine Freilandversuche in die Schweiz verlegt.
Die NGOs genießen bei den Journalisten nach wie vor eine hohe Glaubwürdigkeit und vermutlich auch Sympathie, obwohl da längst keine Vollblut-Aktivisten mehr auf der anderen Seite des Schreibtischs sitzen, sondern PR- und Marketing-Profis.
https://twitter.com/dushanwegner/status/795166521341476864
Wissenschafts-PR steckt noch in den Kinderschuhen und sie hat ein grundsätzliches Problem: Akademische Fragestellungen sind häufig nicht kompatibel mit den Bedürfnissen der Öffentlichkeit. Oder andersherum: Medien und NGOs haben ein gemeinsames Ziel: Aufmerksamkeit. Wissenschaft braucht keine Aufmerksamkeit, sie muss überzeugen, und zwar andere Wissenschaftler, Förderausschüsse und ggf. Drittmittelgeber. Die Regeln, nach denen hier gespielt wird, sind andere als in den Massenmedien.
Gleichwohl genießen Wissenschaftler bei den Menschen eine hohe Glaubwürdigkeit. Wenn ein Nobelpreisträger sich äußert, findet das manchmal auch außerhalb der Wissens-Ressorts Gehör. Um so trauriger, dass der Appell von inzwischen mehr als 120 Nobelpreisträgern, Grüne Gentechnik nicht weiter zu blockieren, in der deutschsprachigen Presse so verpufft ist. Es liegt auch ein bisschen an uns, ob wir die einfach durchkommen lassen, die lauter schreien.

Bildnachweis: http://www.wallpapersshock.com
Es stellt sich die Frage: Müssen Wissenschaftler ihre Denk- und Arbeitsweise an die Bedürfnisse der Öffentlichkeit anpassen? Müssen sie PR studieren? (es gibt bereits genügend Kurse, um Wissenschaftlern medienwirksames Auftreten zu vermitteln – mit relativ wenig Erfolg). Müssen wissenschaftliche Daten von Wissenschaftlern medienwirksam verkauft werden (auch wenn dabei Erkenntnisse verkürzt, vereinfacht, ungenau dargestellt werden)? Wäre es sinnvoll zu lernen, Wissenschaft in „einfacher Sprache“ darzustellen (in gewisser Weise ein Widerspruch in sich: Wissenschaft ist nicht einfach)? Muss Wissenschaft lernen, häufiger populistische Schlagworte einzusetzen um sich verständlich zu machen? Muss Wissenschaft ihre Erkenntnisse emotionaler vermitteln?
Man kann das tun. Man könnte 60 Mio Euro pro Jahr für „Popularisierung der Wissenschaft“ einsetzen (entspricht etwa dem Greenpeace-Etat). Nur: das wäre unwissenschaftlich und Wissenschaft würde sich selbst ad absurdum führen.
Gegen Ende des 20. Jahrhunderts gab es vielfach Interesse in der Öffentlichkeit, Wissenschaft zu verstehen. Das war die Zeit, als Schüler- und Öffentlichkeitslabore boomten. Dann jedoch wurden Events wie „Dr. Frankensteins Tanz der Gene“ populärer – und hatten mehr Unterhaltungswert. Die Wissenschaft hat es nicht geschafft – oder nicht gewollt, sich dem Klamauk anzuschließen.
Die Populisten werden immer lauter sein.