Die Maßnahmen zum Schutz der Bevölkerung vor COVID-19 haben gegriffen, die Zahl der Neuinfektionen geht stetig zurück. Auch wenn Kanzlerin Merkel Forderungen nach Aufhebung der Corona-Schutzmaßnahmen mit dem Begriff „Öffnungsdiskussionsorgien“ abgestraft haben soll, erleben wir eine lebhafte Diskussion in der Öffentlichkeit, wie es mit dem sogenannten Lockdown weiter gehen soll – und das ist gut so. Was mich dabei wundert, ist, dass es kaum Forderungen gibt, regional differenziert vorzugehen. Und ich meine damit nicht die Ebene der Bundesländer, sondern die der Landkreise. Die Wissenschaftsjournalistin Mai Thi Nguyen-Kim hatte kürzlich im ARD Presseclub vorgeschlagen „lokal vorzugehen“, Knackpunkt seien die Kapazitäten der Gesundheitsämter, die einzelnen Infektions- sowie Verdachtsfälle nachzuverfolgen (ca. bei Minute 28:00):
Die Virologin Prof. Dr. Melanie Brinkmann vom Helmholtz-Zentrum für Infektionsforschung in Braunschweig plädierte gestern Abend in der ZDF-Sendung „Lanz“ für die gleiche Vorgehensweise. Prof. Brinkmann spricht sich dafür aus, weniger auf die Reproduktionszahl zu schauen als auf die absolute Zahl der Neuinfektionen: „Mann muss in der Lage sein, die Kontakte nachzuvollziehen.“
Die Virologin bezieht sich explizit auf diese Grafik vom RKI:

Dargestellt wird die Zahl der Neuinfektionen pro 100.000 Einwohner innerhalb der letzten sieben Tage. In manchen Landkreisen (in der Grafik mit dem ganz hellen Gelbton) gab es innerhalb der letzten sieben Tage nicht eine Neuinfektion. Vor allem in den Küstenregionen und in dünn besiedelten Gegenden Ostdeutschlands ist es ruhig. Die Virologin erklärt in der Sendung, dass das Risiko, sich anzustecken, bei der geringen Zahl an Fällen in manchen Landkreisen gering sei:
„Wenn wir die Fallzahlen so niedrig haben in einem bestimmten Landkreis, dann ist auch die Wahrscheinlichkeit, dass jetzt ein Schüler innerhalb der nächsten zwei bis drei Wochen sich da als positiv herausstellt, sehr gering.“
Es spricht aus meiner Sicht auch einiges dafür, dass es in ländlichen Regionen dauerhaft einfacher ist, das Infektionsgeschehen zu kontrollieren: Neben dem geringen Risiko durch geringe Fallzahlen verhalten sich Menschen auf dem Land auch anders als in Großstädten. Wo wesentlich weniger Personen auf einem Quadratkilometer leben, ist es leichter, Abstand zu halten. Auf dem Land nutzen die Menschen weniger den öffentlichen Nahverkehr, schon weil das Angebot mager ist.
Auch FDP-Chef Christian Lindner fordert „stärker regional“ vorzugehen, zum Beispiel am vergangenen Sonntag bei Anne Will:
"Mich überzeugt nicht, dass in Leverkusen bei Herrn Lauterbach die Hotels geschlossen werden müssen, weil es einen Corona-Ausbruch in Passau gibt. Wir müssen stärker regional vorgehen", sagt @c_lindner bei #AnneWill. #Coronavirus #CoronaKrise pic.twitter.com/OmQOVjMc1k
— ANNE WILL Talkshow (@AnneWillTalk) April 26, 2020
Ich finde, Lindner macht hier einen wichtigen Punkt: Die Einschränkung von Grundrechten ist aus Gründen des Seuchenschutzes erlaubt bzw. sogar geboten, aber sie muss verhältnismäßig sein. Bei den Unterschieden im Infektionsgeschehen und in den örtlichen Gegebenheiten können die gleichen Maßnahmen nicht überall gleichermaßen verhältnismäßig sein.
Ein einfaches Beispiel: Ob man einen Spielplatz sperrt oder nicht, ist nicht überall gleichermaßen sinnvoll. Ist unserem Dorf wohnt vielleicht ein halbes Dutzend Familien mit kleineren Kindern, die überhaupt als Nutzer der Spielgeräte in Frage kommen. Die wenigen Personen hätten sich auch leicht absprechen können.
Der Spielplatz liegt außerhalb des Dorfes, ist aber vom Dorf aus einsehbar. Man hätte somit jede Begegnung leicht vermeiden können. Die rigide Art und Weise, wie die Spielgeräte gesperrt wurde, erscheint mir wie ein Schildbürgerstreich.
Auch die vier Forschungsorganisationen Fraunhofer-Gesellschaft, Helmholtz-Gemeinschaft, Leibniz-Gemeinschaft sowie Max-Planck-Gesellschaft betonen in ihrer gemeinsamen Stellungnahme regionale Unterschiede (Hervorhebung im Original):
„Es gibt regionale Unterschiede nicht nur in der Anzahl der Infizierten, sondern auch bei der Reproduktionsrate und der Dunkelziffer. Diese entstehen z.B. durch strukturelle Unterschiede zwischen Regionen und durch unterschiedliche Altersstrukturen. Daher ist einerseits bei der Verallgemeinerung regionaler Studien Vorsicht geboten. Andererseits können durch diese Unterschiede auch lokal unterschiedliche Maßnahmen im Rahmen einer Gesamtstrategie zur Eindämmung von COVID-19 sinnvoll sein.“
Manche Bundespolitiker*innen betonen statt dessen, man müsse bundeseinheitlich vorgehen. Warum eigentlich? Wenn der Hinweis auf den zu vermeidenden Flickenteppich ein valides Argument gegen regional angepasste Lösungen sein soll, gehört der Föderalismus grundsätzlich auf den Prüfstand. Der Wettbewerb der Bundesländer wird sonst ja auch nicht Frage gestellt, nur weil er Unübersichtlichkeit verursacht. Ein bundeseinheitliches Vorgehen hat doch keinen Wert an sich. Das Beispiel mit dem Spielplatz zeigt doch, dass Maßnahmen, die in einer Großstadt sinnvoll und angemessen sind, auf dem Land völlig überzogen sein können.
Ich vermute, man will Gerechtigkeitsdebatten vermeiden. Aber ein Jakob Augstein macht es sich zu einfach, wenn er im Presseclub moniert, dass doch überall die gleichen Grundrechte zu gelten haben. Der allgemeine Gleichheitssatz aus unserem Grundgesetz (Artikel 3) wird von der Rechtssprechung des Bundesverfassungsgerichtes so ausgelegt, dass der Gesetzgeber, wesentlich Gleiches gleich und wesentlich Ungleiches ungleich zu behandeln hat. Das gilt für ungleiche Belastungen wie auch für ungleiche Begünstigungen.
In der kommenden Woche soll die Entscheidung fallen, wie es mit den Schulen weiter gehen soll. Ich bin gespannt.
Bildnachweis: Nicolas Prieto / Unsplash
Offensichtlich haben sie es bis heute nicht geschafft, sich unabhängig zu informieren. Schade.
Hier die Stellungname der Experten, welche an der Analyse der Kriseninfragstrukturabteilung des BMI mitgewirkt haben:
https://www.altersdiskriminierung.de/themen/artikel.php?id=11310