Wir leben derzeit durch die Covid-19-Pandemie in einer Ausnahmesituation, und das in mehrfacher Hinsicht:

  • Der Staat hat unsere Bewegungsfreiheit eingeschränkt: Wir sollen zu Hause bleiben und nur zu notwendigen Erledigungen (Arbeit, Lebensmitteleinkäufe) das Haus verlassen. Verstöße werden von der Polizei geahndet.
  • Schulen und Kindertagesstätten sind geschlossen. Von Ausnahmen für Eltern in systemrelevanten Berufen abgesehen, müssen die Kinder zu Hause betreut werden.
  • Wir sind angehalten, einen räumlichen Abstand zu halten von unseren Mitmenschen. Unnötige Kontakte außerhalb der Familie sind zu vermeiden.

Darf der Staat das so einfach? Es gibt kritische Stimmen, die sogar Züge von Totalitarismus in diesen Maßnahmen erkennen:

https://twitter.com/Augstein/status/1242733527180947456

Zunächst einmal: Das Grundgesetz sieht ausdrücklich vor, dass das Grundrecht auf Freizügigkeit zur Abwehr von Gefahr und ganz konkret „zur Bekämpfung von Seuchengefahr“ eingeschränkt werden darf (Art. 11). Wir stehen also weiterhin mit beiden Füßen auf den Boden unserer Verfassung. Doch sind diese Einschränkungen auch verhältnismäßig? Kann man rechtfertigen, die Wirtschaftstätigkeit so massiv einzuschränken – wohl wissend, dass dies gravierende Folgen für unseren Wohlstand sowie unser gesamtes soziales Gefüge haben wird?  Ich denke, man kann, und will dies im folgenden erklären.

Um die moralischen Aspekte von Entscheidungssituationen herauszuarbeiten, greifen Philosophen gerne auf Gedankenexperimente zurück. Ein berühmtes Beispiel für diese Methode ist das sogenannte Trolley-Problem. Diese Animation der BBC erklärt einfach die wesentlichen Elemente:

Ein Zug rast auf eine Gruppe von fünf Arbeitern zu. Über eine Weiche kann ein Außenstehender den Zug umlenken, so dass der Zug nur eine Person töten wird. Die meisten Menschen geben an, sie würden die Weiche umstellen, so dass nur ein Mensch stirbt. Die gleiche Situation wird allerdings gemeinhin anders bewertet, wenn statt der Weiche eine korpulente Person genutzt wird, um den Zug aufzuhalten, obwohl die Folgen der Handlung die gleichen sind: Eine Person stirbt, fünf Menschen werden gerettet.

In den Sozialen Netzwerken sind bereits Abwandlungen des Problems zur aktuellen Situation aufgetaucht:

https://twitter.com/JuhanaIF/status/1242486856035512322

Dieses Beispiel im Tweet oben ist mir allerdings zu einfach: Letztlich nehmen auch Menschen Schaden, wenn Unternehmen in der Krise ihre wirtschaftliche Tätigkeit zurückfahren oder ganz einstellen müssen. Es gilt als gesichert, dass soziale Not auch auf die Gesundheit der betroffenen Menschen durchschlägt. Die erwartbaren Folgen des Lockdown sind allerdings recht vage und schwer vorauszusehen.

Die BSE-Krise um die Jahrtausendwende etwa liefert ein Beispiel, dass Hysterie mehr Schaden anrichten kann als die Krankheit selbst. Während in Großbritannien 172 sowie in Frankreich 25 Creutzfeldt-Jakob-Fälle registriert wurden, gab es allein auf der Insel rund 150 Selbstmorde von Landwirten zu beklagen, die in der Krise ihre Existenz verloren hatten, und das dürfte nur die Spitze des Eisberges sein. „Die Hysterie um BSE hat inzwischen weit mehr Menschen umgebracht als der Erreger selbst“, zitiert das Handelsblatt den Dortmunder Statistiker Walter Krämer. Wird das bei Covid-19 auch so kommen? Das wissen wir (noch) nicht.

Doch wie können Politikerinnen und Politiker auf Basis solcher Unsicherheiten so gravierende Entscheidungen treffen? Nun, was würden Sie denn tun? – Wir nehmen uns noch einmal das Trolley-Problem vor und versuchen es, auf die momentane Situation zu übertragen: Da rollt ein Zug heran und Sie stehen an der Weiche. Experten haben Ihnen vorgerechnet, dass Tausende von Menschen sterben werden, wenn der Zug weiter rast. So hat das Robert Koch-Institut (RKI) in Modellrechnungen ermittelt, dass je nach Grundannahmen mit knapp 200.000 bis gut 350.000 Corona-Todesfällen zu rechnen ist, falls keine weiteren vorbeugenden Maßnahmen getroffen werden. Dazu müsste man noch die Toten durch Schlaganfälle, Herzinfarkte, Unfälle, Krebserkrankungen etc. hinzuzählen, die nicht mehr optimal versorgt werden können, weil die Versorgung in den Krankenhäusern kollabiert ist. Wissenschaftler des Imperial College in London haben  Szenarien berechnet, in denen sie für die USA auf rund 2 Millionen Todesfälle sowie für Großbritannien auf rund 500.000 Todesfälle kamen für den Fall, dass nichts unternommen wird, um die Ausbreitung der Seuche zu verhindern. Solche Folgen kann kein/e Entscheider/in an den Schaltpulten der Macht wirklich wollen oder auch nur dulden.

Doch was passiert, wenn Sie die Weiche verstellen und der Zug in die andere Richtung rast? Was uns dort erwartet, ist wesentlich unklarer. Vor allem ist nicht absehbar, wie viele Menschen konkret durch die Umleitung des Zuges geschädigt werden. Zu rechnen ist definitiv mit einer Rezession inklusiver bekannter Begleiterscheinungen: höhere Arbeitslosigkeit, geringere Steuereinnahmen, weniger Wohlstand. Der Vorteil dieser Alternative ist allerdings, dass es dort viele verschiedene weitere Weichen geben wird mit der Chance, die Fahrt in eine günstigere Richtung zu lenken. Konkret ist hier erst einmal vor allem mehr Wissen zu nennen: Jeden Tag kommen neue Erkenntnisse hinzu, zum Beispiel zu den Verbreitungswegen des Virus oder zu neuen Behandlungsmöglichkeiten. Wenn die Menschheit besser versteht, wie das Virus sich ausbreitet, können die Maßnahmen auch zielgenauer werden – mit dem positiven Effekt, dass auch wieder mehr Freiräume entstehen können. Weitere Hoffnung liegt auf dem technologischen Fortschritt: Impfstoffe, Medikamente etc. Erste Antikörpertests, mit denen ermittelt werden kann, ob die Infektion bereits durchgemacht wurde, werden bald erhältlich sein.

Jetzt wird deutlich, was wir durch den Lockdown gewinnen: Zeit. Und es kommt noch ein Punkt hinzu: Selbst wenn man genau wüsste, wie viele Menschenleben jeweils durch eine der beiden Optionen zur Disposition stünden, in der Bundesrepublik erlaubt uns unser Grundgesetz nicht, Menschenleben gegeneinander aufzurechnen. In seiner Entscheidung zum Luftsicherheitsgesetz vom 15. Februar 2006 urteilt das Bundesverfassungsgericht, dass sich aus Artikel 1 unserer Verfassung eine Schutzpflicht des Staates ableitet, das Leben seiner Bürger zu schützen:

„Ausgehend von der Vorstellung des Grundgesetzgebers, dass es zum Wesen des Menschen gehört, in Freiheit sich selbst zu bestimmen und sich frei zu entfalten, und dass der Einzelne verlangen kann, in der Gemeinschaft grundsätzlich als gleichberechtigtes Glied mit Eigenwert anerkannt zu werden (vgl. BVerfGE 45, 187 <227 f.>), schließt es die Verpflichtung zur Achtung und zum Schutz der Menschenwürde vielmehr generell aus, den Menschen zum bloßen Objekt des Staates zu machen.“

Und jetzt mal ehrlich: Wer würde den rasenden Zug nicht erst einmal aufhalten, wenn er oder sie könnte?

 

Bildnachweis: CDCUnsplash

2 Antworten zu „Der Corona-Staat”.

  1. ich schätze Ihre Arbeit bezüglich Aufklärung über landwirtschaftl. Zusammenhänge sehr, Zu Corona kann ich Ihnen nicht zustimmen. Gegenargument:
    Zitat:
    Die oft gezeigten Exponentialkurven mit „Coronafällen“ sind irreführend, da auch die Anzahl der Tests exponentiell zunimmt. In den meisten Ländern bleibt das Verhältnis von positiven Tests zu Tests insgesamt (sog. Positivenrate) konstant bei 5% bis 25% oder steigt nur langsam.

    https://swprs.org/covid-19-hinweis-ii/

  2. […] Bürger vor der Ansteckung mit einem gefährlichen Virus zu schützen (siehe dazu in meinem Blog „Der Corona-Staat“). Es ist auch tolerabel, dass diese Maßnahmen anfangs mehr oder weniger zweckmäßig sind, weil […]

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